Der Wissenschaftliche Verein Mönchengladbach besteht seit 150 Jahren

Zum Lob der Wissenschaft

Lew Kopelew und Ulf Merbold hielten Referate

Mönchengladbach – Gemeinhin würde niemand Mönchengladbach als kulturelle Metropole bezeichnen. Und doch funkelt hier im Verborgenen ein Edelstein, der seinesgleichen in der Wissenschaftswelt sucht. Hier fanden sich schon vor mehr als 150 Jahren junge Männer zusammen, um einem breiteren Publikum ihre Ideen von geistiger Freiheit und Bildungswillen zu vermitteln.

Seit 1849 bemüht sich der Wissenschaftliche Verein Mönchengladbach, eine interessierte Öffentlichkeit mit Naturwissenschaften, Technik, Geschichte, Politik und Literatur bekannt zu machen. Geleitet von wissenschaftlichem Erkenntnisdrang und einer humanistischen Grundhaltung sehen sich die Rheinländer in ihrem Selbstverständnis als sozial aufgeschlossene Bürger, die einen aktiven Beitrag zum Gemeinwesen leisten wollen.

Pro Jahr finden zur Zeit etwa zehn Vorträge statt. Die Vorstandsmitglieder bemühen sich jeweils im Frühjahr um aktuelle Beiträge, die in der Regel im Haus der Erholung in der Nähe des Stadtzentrums von Mönchengladbach referiert werden. Erstaunlich ist neben der Aktualität der Vorträge die oft herausragende Stellung des Referenten in der Öffentlichkeit. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Historiker Wolfgang Mommsen, Fritz Fischer und Theodor Schieder, der russische Schriftsteller Lew Kopelew, der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick und der ehemalige Forschungsminister Heinz Riesenhuber am Niederrhein über ihr Spezialgebiet referiert. Mitte der achtziger Jahre sprach Ulf Merbold, nur kurz, nachdem er als erster Deutscher aus dem Weltraum zurückgekehrt war, über seine Erlebnisse im All und den Forschungsstand der Weltraumforschung.

Aber nicht alle prominenten Wissenschaftler und Personen des öffentlichen Lebens kamen der Einladung des Vereins nach. Sebastian Haffner sagte den Mönchengladbachem ebenso ab wie der Philosoph Jürgen Habermas oder Altbundespräsident Theo­dor Heuss, der in seinem unverkennbaren Humor dem Verein mitteilte, dass, nachdem er aus dem höchsten Amt ausgeschieden war, die Deutschen jetzt meinten, über ihn verfügen zu können. Er aber kein Rede-Reise-Onkel sein wol­le.

Ursprünglich hatten sich die Gründerväter vor mehr als 150 Jahren aus rein naturwissenschaftlichem Interesse zusammengeschlossen, doch spätestens seit Beginn des letzten Jahrhunderts kamen vermehrt gesellschaftliche Gesichtspunkte zur Sprache. Deren für die deutsche Entwicklung zum Teil verheerenden Strömungen während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fanden sich auch in den Vorträgen wieder: Die Bedeutung von Kolonialbesitz wurde vor dem 1. Weltkrieg ebenso diskutiert wie der Flottenbau oder die Frage nach Lebensraum im Osten und die genetische Bestimmung des Menschen zur Zeit der nationalsozialistischen Diktatur. Eine antidemokratische Grundhaltung war auch bei Intellektuellen und politisch Interessierten nichts Ungewöhnliches. Insofern war der Wissenschaftliche Verein ein Spiegelbild der deutschen Gesellschaft in ihrer langen und mühseligen Suche nach einer nationalen Identität.

Der Verein zählt mittlerweile etwa 450 Mitglieder und ist bemüht, sein Programm ständig auf den letzten Stand der gesellschaftspolitischen Diskussion zu stellen. Thematisch hat sich dabei im Vergleich zur ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts viel getan: In den kommenden Wochen und Monaten werden im Wissenschaftlichen Verein Mönchengladbach unter anderem Vorträge zur Psychodynamik von Selbstmordattentätern, zu aktuellen Problemen der Wettbewerbspolitik, zum Thema Anti-Aging mit Hormonbehandlung, zur Entdeckung der Archäologie oder zur Frage nach der Existenzberechtigung des Theaters im 21. Jahrhundert referiert. Dem Selbstverständnis des Vereins entsprechend, werden also möglichst viele gesellschaftspolitischen Bereiche thematisiert. Dass es dabei schon seit vielen Jahrzehnten gelingt, die prominenten Redner an den Niederrhein und nicht nach Düsseldorf oder Köln zu holen, sorgt bei so manchem Mönchengladbacher für unverhohlene Schadenfreude.

Dirk Göbels

Quelle: Welt am Sonntag 09.11.2002