Auf Einladung des Wissenschaftlichen Vereins sprach Dieter Liewerscheidt über die abgründige Novelle von Heinrich von Kleist.
Von Sigrid Blomen-Radermacher
„Das war nicht ganz leichte Kost“ räumte Ludolf Kolsdorf, Vorsitzender des Wissenschaftlichen Vereins Mönchengladbach, ein. „Die vergewaltigte ‚Marquise von O…‘. Skandal, Satire und abgründige Komik in Kleists Novelle“ stand jetzt im Haus Erholung auf dem Programm. Der Wissenschaftliche Verein hatte zu dem Vortrag des Vorstandsmitglieds Dieter Liewerscheidt geladen, und der Saal war voll. Mit einer überraschend großen Anzahl von jungen Menschen: Die Marquise von O… ist Abiturthema! Den zukünftigen Abiturientinnen und Abiturienten rief Liewerscheidt zu: „Lesen Sie Kleist. Nicht nur die Handreichungen.“
Dass viele von den jungen Zuhörern genau dies getan haben, zeigte sich in der Diskussion nach dem Vortrag mit klugen und nachbohrenden Fragen sowie einem sicheren Vertreten eigener Haltungen: „Hut ab vor den Deutschlehrern, die solche Schüler haben“, kommentierte Ludolf Kolsdorf. Nein, leichte Kost ist weder die 1808 erschienene Novelle von Heinrich von Kleist noch sind es die alten und neuen Interpretationsansätze der Literaturwissenschaftler.
Der Vortragende, Dieter Liewerscheidt, geboren 1944, studierte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln und war seit 1969 im Schuldienst tätig, von 1982 bis 2010 in Mönchengladbach-Giesenkirchen. Er veröffentlicht Gedichte und literaturwissenschaftliche Fachbeiträge.
Liewerscheidt ging immer wieder auf die Komplexität der Novelle ein, in der die Vergewaltigung und Schwangerschaft der verwitweten Marquise, die mittels einer Annonce den unbekannten Vater sucht und den Vergewaltiger später heiratet, den Ausgangspunkt bildet.
Dass die berühmte Geschichte von Anfang an als ein Skandaltext gehandelt wurde, betonte Liewerscheidt zu Beginn seines Vortrags. Er verwies unter anderem auf psychoanalytische Interpretationsversuche in Anlehnung an Sigmund Freud, der davon ausging, dass die Vergewaltigung keine war, sondern ein einvernehmlicher Akt. Was verständlicherweise die Feministinnen auf den Plan rief.
Liewerscheidt seinerseits stellte den satirischen Blick auf die preußische Adelsgesellschaft, den „Überschuss an Komik, Witz, Frivolität und Ironie“ des Textes in den Vordergrund – abgründig zwar, aber durchaus lesbar.
Wenn die Novelle doch so komplex und im Unterricht nie die Gelegenheit sei, sie so intensiv zu durchdringen, sei es dann überhaupt sinnvoll, sie weiterhin zu behandeln – das war eine durchaus nachvollziehbare Frage eines Schülers.
Die Antwort von Liewerscheidt war allerdings ein eindeutiges „Ja“.
Quelle: RP