Mönchengladbach
Auf Einladung des Wissenschaftlichen Vereins sprach Martin Aust über die Beziehung zwischen der Ukraine und Russland und den Angriffskrieg.
„Die akademische Welt, in der ich aufgewachsen bin, ist am 24. Februar 2022 untergegangen“, sagte Martin Aust. Die Entwicklung des wissenschaftlichen Systems in Russland sei nicht absehbar. Der Krieg führe zu einer anderen Intensität in der Kooperation mit der Ukraine, prognostiziert der auf osteuropäische Geschichte spezialisierte Historiker. Beim Wissenschaftlichen Verein sprach der Bonner Universitätsprofessor über aktuelle Einordnungen und historische Hintergründe zu Russlands Krieg in der Ukraine.
Mit Blick auf das imperiale Erbe Russlands, Putins Neoliberalismus und die ukrainische Nation konzentrierte er sich auf die Jahre 1991 bis 2022. Aust bezeichnete den 24. Februar 2022 als tiefen Schnitt in der Geschichte des facettenreichen, von Nähe und Austausch, Abgrenzung und Konflikt gekennzeichneten Verhältnisses zwischen beiden Nationen – „auch wenn Russlands Krieg gegen die Ukraine zu diesem Zeitpunkt auf der Krim und im Donbass bereits acht Jahre andauerte“. Seitdem zu hörende Nachrichten hätten den Blick auf die jüngste Zeitgeschichte verändert.
Lange sei der vermeintlich friedliche Untergang des sowjetischen Imperiums mit den Nachfolgekriegen um das ehemalige Jugoslawien in den 1990er Jahren kontrastiert worden. Die Blickstellung sei jedoch nicht haltbar. „Das Imperium ist 1991 nicht untergegangen. Es hat sich in den Köpfen Putins und der russischen Elite bewahrt. Der russische Krieg gegen die Ukraine ist ein Versuch, es mit Gewalt wiederherzustellen“, so Aust. Nach Berichten über damals missglückte Staatsgründungsversuche der Ukraine und der in Russland verbreiteten Vorstellung, der große Bruder einer Ukraine ohne Recht auf eine eigene Nation zu sein, bilanzierte er: „Die ukrainische Geschichte erscheint aus dieser Perspektive als lange Emanzipationsgeschichte.“
1991 schien der Zeitpunkt der Emanzipation erreicht zu sein. Beim Referendum stimmten 90 Prozent der ukrainischen Gesamtbevölkerung für die Unabhängigkeit. 1994 wurde im Budapester Memorandum die Unantastbarkeit der Ukraine von Russland garantiert. Das doppelte Erbe von Zarenreich und sowjetischem Imperium sei kein Thema gewesen. Stattdessen hätten wirtschaftliche Herausforderungen und Nöte im Vordergrund gestanden, sagte Martin Aust.
Als Wendepunkt bezeichnete er den Beginn des neuen Jahrtausends mit Russlands Anspruch, als Großmacht wahrgenommen zu werden. Die Jahre 2012, 2013 und 2014 mit Putins dritter Präsidentschaft nannte er als Zeit, die zum Krieg führte. Aust bezeichnete Putin als situativ handelnden Praktiker, der kurzfristige Vorteile suche, ohne langfristig zu planen. Der Überfall auf die Ukraine sei rückblickend schwerwiegend, aber nicht überraschend gewesen.
Der Gast zeigte sich überzeugt, dass Russlands Neoliberalismus auf Dauer scheitern werde. In der russischen Gesellschaft herrsche keine Welle der Begeisterung für den Krieg, die Ukrainer aber wüssten, wofür sie kämpfen wollten. Der Referent mahnte zudem Deutschlands historische Verantwortung an, die im Vernichtungskrieg gegen Russland in den 1940er Jahren und den Überfall auf die Ukraine begründet sei. Er verwies auf die damit verbundene intellektuelle sowie kognitive Herausforderung und warb für Empathie: „Wir dürfen uns nicht an Erzählungen von Gewalt gewöhnen“, so der Historiker.