Foto: Jürgen Körting
Wolfgang Kraushaar hat sie fast alle gekannt, die Protagonisten der 68er. Horkheimer, Marcuse, Adorno erlebte der junge Student vom hessischen Dorf nach seinem Abitur 1968 in der intellektuellen Zentrale der Studentenbewegung, der Uni Frankfurt; Cohn-Bendit duzt er noch heute; sein politisches Engagement brachte ihm 1974 den Frankfurter AStA-Vorsitz ein.
Nach der Promotion bei Iring Fetscher wurde er im Hamburger Institut für Sozialforschung zum Chronisten der 68er-Bewegung. Just vor wenigen Wochen ist seine vierbändige, 2000-seitige illustrierte Chronik dieser Zeit bei Klett-Cotta erschienen. Jetzt steht der schlohweißhaarige Gelehrte in Anzug, Weste und rotem, etwas zu weit aufgeknöpften Hemd vor rund 40 Mitgliedern und Gästen des Wissenschaftlichen Vereins im Haus Erholung. Er spricht druckreif, sanft und klar, schafft mit einfachen Worten große Zusammenhänge. Einzig seine Armbanduhr liegt auf dem Rednerpult.
Diesen Mann nach Mönchengladbach geholt zu haben, ist Verdienst des Vereins, dessen Vorsitzender Ludolf Kolsdorf Kraushaar begrüßte und ihm nach knapp zwei hochinteressanten Stunden die obligatorischen Gladbacher Knööp überreichte. Von Borussias Fohlenelf, quasi aus der Tiefe des Raumes, findet Kraushaar unmittelbar in die 68er-Bewegung, die er als im Kern eine Studentenbewegung kennzeichnet: akademisch in der Zielformulierung und dabei politisch machtlos.
Der Tod Benno Ohnesorgs im Juni 1967 und die Bildung der Sozialliberalen Koalition Ende 1969 mit dem Bundeskanzler Willy Brandt und dem gleichzeitigen Ende der APO, der Außerparlamentarischen Opposition, sind seine Eckdaten. Was in diesen zwei Jahren vor allem in Berlin, dann aber auch in allen anderen größeren Universitätsstädten in Deutschland geschah, erzählt Kraushaar äußerst lebendig. Vor allem aber in interessanten Zusammenhängen, die die Bewegung und ihre Protagonisten aus der wissenschaftlichen Distanz des Historikers neu beleuchten.
Da ist zum eine die internationale Situation, für die die Anti-Vietnam-Demos in den USA, die Niederschlagung des Prager Frühlings und brennende Barrikaden in Paris nur einige Beispiele sind. Da sind zum anderen die Lebensläufe der handelnden Personen, denen Kraushaar in Publikationen zum Protestantismus und Antisemitismus vielbeachtete Bücher widmete. Immer aber schafft es der Referent, die Bezüge dieser zwei Jahre bundesrepublikanischer Studentenrevolte auf die Zeit danach und aufs Heute herzustellen. Die damalige Neue Linke in der SPD, die Gründung der Grünen, der Beginn einer „Neuen Subjektivität“, die Kultur der Wohngemeinschaften, das Aufkommen der Bürgerbegehren – sie sind nur einige Beispiele. Auch zur Kultur der AFD, der Nähe zu 68 nachgesagt wird, hat Kraushaar seine wohlbegründete Ansicht. Das wird auch in der anschließenden Diskussion deutlich. 68 hat eben immer polarisiert, damals wie heute.
Quelle: RP